Notes on the book Hörbarer Sinn (Audible Sense) DE | EN [Thomas Dworschak]

Bemerkungen zum Buch Hörbarer Sinn

Hörbarer Sinn ist ein Beitrag zur Musikphilosophie. Ich möchte hier kurz erläutern, was das bedeutet.

Man meint häufig, daß eine Philosophie von etwas ein besonderes Wissen von diesem Etwas sei. So wäre die Musikphilosophie ein besonderes Wissen über Musik. Aber worin würde die Besonderheit liegen? Es gibt die vage Vorstellung, philosophisches Wissen sei auf irgendeine Weise tiefer oder bedeutungsvoller als beispielsweise ein technisches oder historisches Wissen – philosophisches Wissen führe auf das, was Musik ‚eigentlich‘, ‚in Wirklichkeit‘ sei und bedeute.

Es ist eine Ehre für die Philosophie, wenn sie dieser Anspruch an sie herangetragen wird. Es ist aber ein Anspruch, der schwer zu verstehen ist und der am Ende, wenn man ihn verfolgen wollte, zu etwas anderem führt als zu dem, was man sich gewünscht hatte: nicht zu sicherem und ‚eigentlichem‘ Wissen von der Musik, sondern zu einem Wissen, das bedingt, begrenzt und vermittelt ist.

Diese Bedingungen, Begrenzungen und Vermittlungen kommen in den Blick, sobald man einen ganz einfachen Gedanken festhält: Musik ist nicht ‚einfach so‘ da, sondern sie wird gemacht – gesungen, gespielt, ausgedacht. An diesem Gedanken orientiert sich mein Buch. Es hebt hervor, dass eine Musikphilosophie genaugenommen eine Untersuchung des Musikmachens, des Musikhörens und des Sprechens über Musik sein muß – des Sprechens deshalb, weil wir all die Erfahrungen, die wir im Musikmachen und im Musikhören sammeln, nur vor dem Hintergrund kultureller Praktiken machen, die zu einem wesentlichen Teil sprachlich vermittelt sind, und weil wir sie auch in sprachlicher Form weitergeben.

Insofern mein Buch eine akademische und wissenschaftliche Produktion ist, greift es nicht direkt auf solche Praktiken zu, sondern es diskutiert philosophische, musiktheoretische und musikanalytische Positionen, indem es sie daraufhin befragt, welche Grundzüge des Umgangs mit Musik sie herausarbeiten und welche sie außer Acht lassen.

Grundsätzlich unterscheide ich drei Weisen des Umgangs mit Musik, von denen jede einen bestimmten Aspekt der Musik hervorhebt:

1. Der Umgang faßt Musik als Struktur aus Tonhöhen und Tondauern – und zwar als eine Struktur, die Klänge grundsätzlich von ihrer Erzeugung ablöst. Ein Klang in einer Tondauernstruktur hat einen kategorial anderen Sinn als ein Klang (oder Geräusch), der uns darauf hinweist, daß sich etwas ereignet – zum Beispiel, daß eine Saite reißt oder ein Fahrrad auf mich zurollt. Diesen Aspekt müssen wir berücksichtigen, wenn wir Musik – als autonome Klangstruktur – begreifen wollen.

2. Musik ist aber nicht Musik. Unter dem zweiten Gesichtspunkt ist Musik und zwar eine Bewegung, die in einem Verhältnis zu unserem Leib steht. Als melodische und rhythmische Bewegung konkordiert sie unserer Möglichkeit, uns durch Gesten und durch unsere Stimme auszudrücken. (Auch vom Tanz ist in diesem Zusammenhang zu sprechen.) Dieser Gesichtspunkt ist der von Sinn (ein Wort, das ich aus Helmuth Plessners vernachlässigtem Werk übernehme). Das bedeutet nicht, daß wir Musik in tatsächliche Gesten übersetzen müßten, um ihre Bewegung zu erfahren. Dazu ist Musik meistens viel zu komplex. Aber daß wir überhaupt die unendlich vielen Nuancen der Musik als Nuancen erfahren können, liegt daran, daß das Hören von Klängen uns leiblich – wenigstens in der Vorstellung – in Bewegung versetzt, wie keine andere Wahrnehmungsform es tut.

3. Schließlich entsteht Musik in gesellschaftlichen bzw. kulturellen Zusammenhängen. Aus diesen Zusammenhängen übernimmt sie Bedeutungen, die den dritten Aspekt des Umgangs mit ihr ausmachen. Hier haben wir es mit dem Aspekt im engeren Sinn zu tun. Bestimmte harmonische, melodische oder rhythmische Gestaltungen, bestimmte Instrumente usw. rufen die Assoziation mehr oder weniger bestimmter Situationen hervor. Diese Verknüpfung ist besonders im Einsatz von Musik in der Werbung oder im Film zu bemerken. Aber auch in der Kunstmusik hat sie ihre Stelle, wie die Forschungen über in der Zeit Haydns, Mozarts und Beethovens oder die Verarbeitung kontrastierender Symbolsphären in Mahlers Werk zeigen.

Diese drei Aspekte sind Formen des Umgangs. Es ist also nicht auf naturgegebene Weise festgelegt, wie sie sich ausgestalten. Solche Umgangsformen lernen wir, und wir modifizieren sie. Aber sie binden uns auch, und so ist es nicht möglich, einfach eine neue Umgangsform zu erfinden. Musik ist uns nur verständlich, indem wir an Formen des Umgangs und an Typen von musikalischem Sinn anknüpfen, die sich bereits gebildet haben. Vor diesem Hintergrund erfahren wir auch das, was radikal neu sein möchte.

Formen des Umgangs sind jedoch auch etwas, das wir beständig reflektieren. Sie sind gegeben, aber wir sind ihnen nicht ausgeliefert. Wir fragen nach ihrem Sinn und nach ihrem Zusammenhang mit anderen Feldern unseres Tuns und Denkens. Spannend an der Musik ist, wie in ihr selbst die genannten drei Aspekte ihres Sinns und ihrer Form untereinander in Widerspruch geraten und sich gegenseitig herausfordern können, beispielsweise so, daß die schematische Struktur das thematische Hören überfordert, das thematische Hören einen symbolischen Gehalt verspottet, ein symbolischer Gehalt das schematische Hören stört …

Wie in allen Feldern, in denen Ästhetisches eine Rolle spielt, sind diese Spannungen nicht ganz kontrollierbar. Auch die Prozesse, in denen wir uns Umgangsweisen aneignen, sie reflektieren und sie gebrauchen, sind es nicht. Man kann sich bemühen, den Klang zu kontrollieren. Aber es geht mir in meinem Buch darum, an vielen Beispielen und Überlegungen zu zeigen, daß wir nie einfach nur den Klang hören, sondern (wie fragmentarisch, ansatzweise, uneindeutig auch immer) Sinn im Klang – und wo Sinn ist, befinden wir uns in einem Feld des nie ganz Beherrschbaren.

Notes on the book Hörbarer Sinn

Hörbarer Sinn is a piece on music philosophy. I would like to briefly explain what that means.

It is often thought that the philosophy of something is a particular knowledge of that thing. In this way, the philosophy of music would be a particular knowledge of music. But where would the particularity lie? There is the vague idea that philosophical knowledge is in some way deeper or more meaningful than, for example, technical or historical knowledge – philosophical knowledge leads to that which music “actually”, “in reality” is and means.

It is an honor for philosophy when this claim is imposed on it. However, it is a claim which is difficult to understand and which, in the end, if pursued, leads to something different than that which was desired: not to a certain or “true” knowledge of music, but rather to a knowledge, which is conditional, limited and projected.

These conditions, limitations and projections come into focus as soon as one holds tightly to a very simple thought: music is not “just simply” there, rather it is made – sung, played, conceived. My book is orientated on these thoughts. It emphasizes that the philosophy of music has to be, strictly speaking, an examination of making music, listening to music and talking about music – the latter because the experience we gain in making music and listening to music can only be had against the background of cultural practices, which are to a large extent communicated verbally, and because we also pass them on in the form of language.

Insomuch as my book is an academic and scientific production, it does not directly approach such practices, rather it discusses philosophical, musicological and musical analysis positions by questioning which basic principles of dealing with music they develop and which they disregard.

Fundamentally, I distinguish three ways of associating with music, each of which highlights a particular aspect of music:

1. The diagrammatic association expresses music as a structure of pitches and note duration – namely as a structure, which fundamentally detaches sounds from their production. A sound in the structure of note duration has a categorically different significance than a sound (or noise), which suggests to us that something is happening – for example, when a string breaks or a bicycle is rolling towards me. We have to take these aspects into account if we want to understand music as simply music – as an autonomous sound structure.

2. Music is, however, not only music. The second aspect of music is movement – namely a movement that is in relation to our body. As a melodic and rhythmic movement, it is in concord with our ability to express ourselves through gestures and our voice. (Dance can also be discussed in this context.) This aspect is the reenactment of the thematic sense (a word that I am adopting from Helmuth Plessner’s neglected work Die Einheit der Sinne). That does not mean that we have to translate music into actual gestures in order to experience its movement. Music is, more often than not, too complicated to do so. However, the fact that music’s infinitely many nuances can seem to us as listeners to be nuances of movement is due to the ability of sound to set us – in our imagination at least – in motion, in a way that none of our other senses can.

3. Lastly, music arises in social or cultural contexts. From these contexts, it assumes a sense which makes up the third aspect of associating with music. Here we are more strictly dealing with the symbolic aspect. Certain harmonic, melodic or rhythmic formations, particular instruments, etc., evoke certain situations to a greater or lesser degree. This correlation is particularly noticeable in the use of music in advertising or film. It also, however, plays a role in art music, as research into tropes during the time of Haydn, Mozart and Beethoven or into the use of contrasting symbolic spheres in Mahler’s work shows.

These three aspects are forms of association. How they develop is therefore not determined in a natural way. Such forms of association are learned and modified. However, we are also bound by them, and thus it is not possible to simply invent a new form of association. Music is only comprehensible to us when we establish forms of association and types of musical sense that have already been created. Against this backdrop, we also experience that which wants to be radically new.

Forms of association are, however, also something that we constantly reflect. They are given, but we are not at their mercy. We question their meaning and their connection with other areas of our thoughts and actions. What is fascinating about music is how the three previously mentioned aspects of its meaning and form can contradict and challenge each other in such a way, for example, that the diagrammatic structure overwhelms the thematic perception; the thematic perception ridicules symbolic content; symbolic content disturbs the diagrammatic perception …

As in all fields, in which aesthetics play a role, these tensions are not outright controllable. This is not even the case when we adopt our own methods of association, reflect them and use them. One can try to control sound. The aim of my book, however, is to demonstrate numerous examples and reflections that it is never merely sound which we hear, but rather (in however fragmentary, rudimentary or ambiguous a form) sense in sound – and wherever sense exists, one is in an area which can never be entirely controlled.

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