Trauer der Zeiten. Temporale Reibungen in jüngster europäischer Musik [Gesine Schröder]

Es scheint, dass besonders Europäer die Zeit umtreibt, ja: dass sie mit ihr zu kämpfen haben, mehr als Musiker und Musikhörer anderer Länder. Europäer sind von Geschichte geschlagen, schon bevor sie das Licht dieser Welt erblicken. Geschichte bringt ihnen eine schwere Last und mindestens eines dieser dreien: Melancholie, Trauer, Trübsinn, häufig – in einer Art Abwehrreaktion – übertüncht von Fortschrittsfaible, das niemals gereicht hat, um Trauer, Melancholie oder Trübsinn zu entkommen. Der Fortschritt blieb eine oft aggressiv behauptete Phantasmagorie, ein aberwitziges Ablenkungsmanöver. Das gilt auch für die Musik, die als Avantgarde die Kompositionslehrgänge an den meisten mittel- und westeuropäischen Hochschulen seit bald achtzig Jahren bis heute dominiert und dort sozusagen zum guten Ton gehört.

Für eine Weile schien das anders zu sein: In Deutschland nannte man das Ende des Zweiten Weltkriegs – eigentlich die vier Jahre Besatzung durch die Alliierten, die dem Ende des Krieges folgten – optimistisch die „Stunde Null“. (Vielleicht nicht unwichtig, dass der Begriff vermutlich zuallererst für neue Literatur der Zeit gebraucht wurde.) Man hoffte, noch einmal „ganz von vorne“ anfangen zu können. Karlheinz Stockhausens Zeitkonzepte aus den 1950er-Jahren lassen sich als Transformation der Idee der „Stunde Null“ in die Musik lesen: Zeitverläufe in der Musik wurden physikalisch-mathematisch angegangen, es sollten rückbezügliche und metaphorische Momente von musikalischer Zeit ausgeschieden oder ignoriert werden. Zu diesem Zweck konzentrierte sich Stockhausen auf die Wahrnehmung – eine Wahrnehmung, die als elementar gefasst war: ohne Assoziationen. Stockhausen bestand darauf, dass sich Zeitwahrnehmung vermessen lasse. Sie sollte so in ein serielles Konzept integrierbar sein, dass Zahlenrelationen und wahrgenommene Relationen in eins fielen. In Analogie zur Wahrnehmung von Tonhöhen entwarf Stockhausen in seinem berühmten Aufsatz vom Ende der 1950er-Jahre „… wie die Zeit vergeht …“ eine Zeitoktave, die logarithmisch in Tempoabstufungen gegliedert war.[1] Stockhausen hatte festgestellt, dass multiplikative Dauernreihen keine angemessene Entsprechung zur chromatischen Tonhöhenskalierung darstellten (wie es z.B. bei Messiaens Etüde Modes de valeurs et d’intensité unterstellt worden war). Stockhausen ersetzte die multiplikative Dauernreihung bekanntlich durch eine logarithmisch gestufte Oktave (die Oktave wird nach wie vor = 1:2 gesetzt, also z.B. als Verhältnis von Halber zu Ganzer). Statt des Rhythmus wird nun das Tempo organisiert. Bei Stockhausen treten einander „Zeitfelder“ gegenüber, deren Tempoverhältnisse logarithmisch berechnet sind (Stichwort „Polytempik“).

So weit, so gut. Das hört sich nach einer rationalen Kalkulation an. Aber dann gibt es bei Stockhausen noch den vermutlich mystisch-deutsch klingenden Begriff der „Eigenzeit“, eine seltsame sprachliche Parallelbildung zu dem Begriff „Eigentum“ oder auch „Eigenheit“, die schwer angemessen in andere Sprachen zu übersetzen sein dürfte. Gemeint war mit „Eigenzeit“, dass die absolute Dauer bestimmter Töne oder anderer klanglicher Ereignisse in der Musik, die er schrieb, sich nach den physiologischen Möglichkeiten auf bestimmten Instrumenten und sogar von bestimmten Spielern richtet: etwa bei der Anweisung „so lange wie möglich“ für Flöte. Man fragt sich, ob (und wenn ja, wie) das Auftauchen des Begriffs zeitgeschichtlich und lokal gedeutet werden kann. Warum kam ein deutscher Komponist nach dem Zweiten Weltkrieg auf die Idee, die Dauer von Tönen in seiner Musik nicht mehr vom musikalischen Kontext abhängig zu machen? Warum sollten sich klangliche Erscheinungen ganz auf das Physische zurückziehen? War es, als streiften sie damit auch alle Ideologie ab, den Überbau? Sie sollten Musik sein nur noch durch den Körper, der ihren Ton von sich gab. Von Gestaltung war nicht mehr die Rede.

Stockhausens Konzept widerfuhr eine Geschichte: Es wurde rezeptiv uminterpretiert und weiterentwickelt. So nahm Helmut Lachenmann, nachdem er Anfang der 1960er Jahre an einem Kölner Kurs Stockhausens teilgenommen hatte, dessen Konzept der Eigenzeit auf, verstand darunter nun aber Folgendes: Die „Eigenzeit“ sei die Dauer, die ein bestimmter Klang brauche, damit ein Hörer dessen charakteristische Eigenschaften möglichst vollständig aufnehmen könne.[2] Stockhausens Konzept war vom Spieler her gedacht, Lachenmanns Konzept ist nun aber vom Hörer her begründet. Mit Kriterien, die auf Hörer bezogen waren, operierte Lachenmann bei seinem Konzept der „Klangtypen der Neuen Musik“.[3] Lachenmann unterscheidet zwischen „zuständlichen“ und „prozesshaften“ Klängen. Die Eigenzeit von zuständlichen Klängen verbindet er mit statischen oder statistischen Hörerfahrungen, also mit Hörerfahrungen, deren Grenzen unbestimmt bleiben. Dagegen sei bei prozesshaften Klängen die Eigenzeit identisch mit der Dauer ihres Erklingens: Da der Klang in einen Prozess eingebunden ist, ist seine Eigenzeit identisch mit der Zeit, die der Prozess dauert.

Zu der Generation von Komponisten, die – wie Lachenmann – Mitte bis Ende der 1930er-Jahre geboren waren, zählten solche, die vermeiden wollten, dass man „in tonale Zeit- und Formvorstellungen“[4] zurückfiel (Nicolaus A. Huber). Diese wurden mit der hierarchischen bürgerlichen Gesellschaft assoziiert. Man kann sich vage vorstellen, was mit einer tonalen Zeitvorstellung gemeint ist. Nebenbei ist von einer durch die Formulierung untergeschobenen Interdependenz von Zeit und Form die Rede, als fiele man durch tonale Zeitvorstellungen unweigerlich in tonale Formvorstellungen hinein. Undeutlich bleibt, inwiefern die Bereiche aufeinander bezogen sein sollen. In den 1970er-Jahren, der Zeit nach den Studentenrevolten von 1968, als jeder, der ästhetisch etwas zu sagen haben wollte, links gesonnen zu sein hatte, kam es zu einer neuen Entwicklung. Motiviert von sozialrevolutionären und polit-ästhetischen Gedanken übertrug Nicolaus A. Huber das harmonische Prinzip der Modulation auf die Zeit. Sicher ist es kein Zufall, dass diese Idee in Frankreich seit den 1830er-Jahren existiert hatte, einer zweiten Revolutionsperiode in Frankreich, die dem Land immerhin den sogenannten Bürgerkönig beschert hatte.[5] Huber reicherte seine Rhythmuskonzeption mit Lokalem und vor allem Konkretem an, das er links orientierten Künstlern und Ästhetikern entlehnte: Zu integrieren versuchte er Bertold Brechts „gestisches“ Prinzip und jene sagenhaften „Intonationen“, von denen Boris Assafieff gesprochen hatte und bei denen es um nationale, ethnische, kollektive, idiomatische Körper- und Spracherfahrungen geht.[6]

Diese Zeitdiskussionen kommen einem heute passé vor. Sie sind so alt wie die Avantgardisten selber, zieht man ihre ersten zwanzig Lebensjahre ab. Der wirbelnden Gedankenwelt der 1950er- bis 1970er-Jahre ist längst anderes gegenüber getreten. Betonen muss man, dass es innerhalb der unterschiedlichen europäischen Sprachkulturen, aus denen die Avantgardisten kamen (vor allem Frankreich, Italien und Deutschland) eklatante Unterschiede gab. Schon in Frankreich und selbst bei den Franzosen, die – wie Pierre Boulez oder Gérard Grisey – eng mit Deutschland verbunden waren, lagen die Dinge anders als im deutschsprachigen Kulturbereich. Insbesondere Griseys Text „tempus ex machina“ hatte in den 1970er-Jahren die kosmologische Zeitphilosophie oder -anschauung seines Lehrers Olivier Messiaen mit einer Anschauung weitergeführt, die auf alles Lebendige gerichtet war.

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„Zeit“ in der Musik hat viele Dimensionen, von denen sich vier mit Geräten oder mit der Wahrnehmung registrieren lassen: (1) die exakt messbare Dauer einer Komposition als Text, wenn man ihren Metronomzahlen folgt, also dem, was der Komponist vorschreibt, (2) die gemessene Dauer, welche sie in tatsächlichen Aufführungen ausfüllt, (3) die empfundene Zeitdauer und (4) die Dichte der Zeit (welche vermutlich nicht mit der empfundenen Zeit identisch ist). Eine weitere Dimension musikalischer Zeit lässt sich hinzufügen. Man kann sie vielleicht als metaphorische Dimension der Zeit bezeichnen: (5) die Zeit oder besser: die Zeiten, auf welche manche Kompositionen als auf fremde anspielen, Zeitverweise oder sogar Zeitzitate.

Georg Friedrich Haas’ Stück Anachronism von 2013 (uraufgeführt 2014) lässt sich als Kommentar zur jüngeren US-amerikanischen Kompositionsgeschichte lesen. Das Stück breitet in seinen ersten 53 Takten nichts anderes als den Zusammenklang C–g aus. Es thematisiert Zeit einerseits negativ: mit der Stillstellung von Harmonie, andererseits positiv: mit der Hervorkehrung einer beharrlichen ungewöhnlichen Taktart, einem 11/8-Takt, welcher unbeirrt das ganze Stück in durchlaufenden Achteln artikuliert wird.

Zahlreiche weitere Stücke von Haas fallen in die gleiche Kategorie von Stücken, in denen eine eigene Zeit auf eine fremde trifft, z.B. … e finisci già? (2012), Tria ex uno (2001) oder Traum in des Sommers Nacht (2009). Die Musik, auf die sich die genannten Stücke von Haas beziehen, stammt von Mozart, Terry Riley (und vermutlich auch von anderen Minimalisten), Josquin des Préz, Felix Mendelssohn Bartholdy und immer wieder auch Ivan Wyschnegradski. Auch der deutsche Komponist Johannes Schöllhorn hat ausgesprochen häufig – im weiteren Sinne – bearbeitet, also bereits vorhandene Musik, welche natürlich aus einer früheren Zeit stammt, zum Ausgangspunkt des eigenen Werks gemacht. Ein jüngeres Beispiel ist va! – komponierte Orchestration nach Jules Massenet – expressions lyriques (2016), also nach dem Klavierliederzyklus des sonst eher als Opernkomponist bekannten französischen Komponisten des Fin de Siècle. Auf die Probe stellen möchte ich das Verständnis von Haas’ und Schöllhorns Bearbeitungsverfahren durch die Hinzunahme des Stücks eines wieder eine halbe Generation jüngeren Komponisten, nämlich der Orchesterkomposition absolutio (2016) des serbischen Komponisten Marko Nikodijević. Die moderne Zeit der ausgewählten Stücke (bzw. ihre Gegenwartszeit) wird kompositorisch expliziert über die Relation zu verschwundenen Zeiten (zu den Zeiten der Vorlagen). Verweise auf fremde Sorten von Musik, besonders auf tonale, evozieren (und erfordern) Reaktionen. Im Felde der harmonischen Erfindung wurde das längst offenbar. Bei „Alter Musik“ hatte man entweder die Distanz zur Gegenwart verwischt, indem man ihre Harmonik aufpeppte (z.B. Caccini-Bearbeitungen aus dem 19. Jahrhundert). Die Kehrseite war das Eindringen von Archaismen u.a. in die Harmonik, eine Art Exotisierung der Vorzeit.

Weniger bewusst wurde man sich aber der Tatsache, dass man die eigene Musik durch die Hineinnahme einer älteren Stilistik auch einer anderen Zeitgestaltung oder einfach einer anderen Gangart aussetzte. Rudolf Stephan hat dies vor Jahrzehnten an dem „Fall Mozart“ demonstriert: Mozarts Schreibfluss geriet ins Stocken, sobald er sich intensiver mit Bachs Fugenschreiben zu beschäftigen begonnen hatte. Stephan diagnostizierte damals Bachs andere Zeitgestaltung als Ursache. Ausgeprägt hatte sich diese u.a. darin, wie harmonisch im Verhältnis zum Takt gestaltet wurde. Immerhin wird man sowohl Bachs als auch Mozarts Harmonik als tonal bezeichnen. Bei Haas (auch bei Schöllhorn und Nikodijevic) liegen die Schwierigkeiten, denen man sich durch den Einbezug älterer Musik stellt, allerdings anders. Und zwar wegen des Punktes Tonalität. Mit Relikten aus fremder, tonaler Musik dringt auch eine tonale Zeit in die „Eigenzeit“ post-tonaler Musik ein. Bestimmte Arten tonaler Musik haben bzw. brauchen offenbar ihre eigene Gangart. Was bedeutet eigentlich der Einschluss dieser „fremden“ Zeiten für den Zeitverlauf des neu erfundenen Stücks? Zu erwarten ist, dass Konflikte immer mit dem Erfolg und dem Überleben der jüngsten Zeit enden: Bestimmt siegt die Gegenwart, bestimmt gibt es eine Selbstbehauptung des lebenden Komponisten (vielleicht zusammen mit einem Vater- oder Muttermord).

Was bedeutet die für reinwässrige Avantgardisten so wichtige (weil unmetaphorische) gezählte Zeit für eine Zeit, von der musikalisch erzählt wird und/oder die man (fragmentarisch) zitiert? Kommt es zu einem Dialog? Kommt es zu einem Kampf? Wenn ja, wie funktionieren diese? Vor dem Hintergrund von Karlheinz Stockhausens berühmten Beobachtungen dazu, „wie die Zeit vergeht“, versuche ich zu beantworten, wie Bezüge auf andere Zeiten den Verlauf und das Empfinden avantgardistisch konzipierter Zeit ändern. Die angeführten Stücke beziehen andere Zeiten in Form vergangener Zeiten ein. Könnte Musik sich auch auf künftige Zeiten beziehen? Kann es eine utopische oder dystopische Musik geben, eine Art musikalischer Science fiction? Wäre das eine Freude oder eine Trauer, die sich in die Zukunft richtet?

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Generationsfragen und Geographisches lassen sich mit Zeitfragen und Gangarten von Musik in Zusammenhang bringen, z.B. so:

Georg Friedrich Haas und Johannes Schöllhorn sind nicht mehr ganz dieselbe Generation (Schöllhorn ist achteinhalb Jahre jünger als Haas). Sie kommen aus nicht ganz derselben Gegend: Der eine wurde im vorarlbergischen Tschagguns groß (Haas), der andere in Marktoberdorf im Ostallgäu – nicht weit voneinander entfernt, wenn man von ferne schaut. Aber der eine Ort ist österreichisch, der andere deutsch. (Deutsch gesprochen wird bekanntlich in beiden.) Das Studium trieb sie in entgegengesetzte Richtungen: Haas nach Graz und Wien, also Richtung Osten; Schöllhorn nach Freiburg, also nach Westen. Wichtig am Westen vielleicht: Schöllhorns Faible für Französisches. Bei Hass gibt es dazu kein Pendant. Durch zwei seiner Gattinnen gab es eine Verbindung einmal zu japanischen Kultur, dann (heute) zur US-amerikanischen Ostküstenkultur. Gemeinsam ist Haas und Schöllhorn, dass sie ungewöhnlich viel bearbeiten. Für die Praxis des Bearbeitens sind in den letzten gut hundert Jahren nach und nach Gründe entfallen, die einmal den wichtigsten Anlass für diese Praxis gebildet hatten:

  • Die Schwierigkeit, Aufführungen zu reproduzieren, verringerte sich durch die Erfindung und zunehmende Verbesserung der Tonaufzeichnung in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Damit entfiel z.B. für bestimmte Arten von Transkriptionen der Bedarf: für den Klavierauszug von Symphonien, Klaviertriobearbeitungen von Orchesterwerken und Ähnliches.
  • Das Konzept von Werktreue (Texttreue) und die Originalklangbewegung bzw. die historische Aufführungspraxis machten Bearbeitungen früherer Zeiten verdächtig: sie seien nicht „echt“, Vereinnahmungen und Verfälschungen von Geschichte.
  • Bis zu einem gewissen Maße war auch das Konzept der Aneignung verdächtig, wurde aber immer wieder verteidigt (naiv mit dem Argument des Künstleregos, das frei schalten und walten dürfe). Man machte Musik anderer Personen/Geister und einer anderen Zeit zur eigenen. Das Moment von Besitz spielt eine Rolle. Man erobert sozusagen die Gegenwart über die Einverleibung und die Verdauung der Vergangenheit.

Mit dem Wegfall der praktischen Gründe von Bearbeiten (infolge der maschinellen Reproduzierbarkeit) entfiel auch ein bestimmtes Repertoire für diese Praxis: die gesamte klassisch-romantische Musik, welche lange den Konzertsaal der jeweiligen Gegenwart (der Klassik und Romantik) beherrscht hatte. Die Bearbeitung hatte zum Bekanntwerden der Musik der eigenen Zeit gedient. Wer in den jüngst vergangenen Jahrzehnten bearbeitete, wählte stattdessen gern eine Vorlage, die historisch weit entfernt war und nicht massenhaft goutiert wurde – eine Haltung, die oppositionell gegen das wirkt, was der große Haufen gut fand. Man kann sagen, dass es unter manchen Avantgardisten der zweiten und dritten Generation (der nach Stockhausen geborenen wie Harrison Birtwistle, Siegfried Thiele, Salvatore Sciarrino, Gösta Neuwirth, sogar noch Isabel Mundry oder Brice Pauset) zur Mode und sogar zur Frage der Glaubwürdigkeit wurde, sich auf geschichtlich weit entfernt Liegendes zu beziehen: auf das Mittelalter oder die Renaissance, allerdings nicht auf die approbierte Renaissancemusik Giambattista Palestrinas oder Orlando di Lassos, sondern auf die der Vergessenen, die nun zu Geheimtipps avancierten – wie Claude le Jeune bei Salvatore Sciarrino –, oder auf flammende – und darum nicht klassisch gewordene – Genien wie Josquin des Préz.

All diese Bezüge sind keine Bearbeitungen im üblichen Sinne mehr. Sie gehen über in Eigenkompositionen, auch wenn die Vorlage überdeutlich bleibt, überdeutlich in einem Fall wie Haas’ Tria ex uno mit dem Bezug auf Josquin.

Dann wird aber Musik zur Vorlage, die vorher kaum bearbeitet wurde, obwohl ihre Komponisten zur Klassik-Romantik zählten: Mozart, Schubert oder Mendelssohn bei Haas. Gemeinsam ist den Vorlagen, dass es sich um komponierte Musik handelt, nicht um usuelle Musik oder sogenannte Volksmusik. Schöllhorn bearbeitet – in berühmter Traditionsfortführung – auch immer (wieder) Bach. Gegenüber Massenet dürfte es (für einen deutschen Komponisten) eine Hemmschwelle oder ein Berührungsverbot gegeben zu haben. Zu der französischen Kultur von Massenets Musik gehört eine andere musikalische Ambition: dass Musik zum Genießen und fürs Gerührtsein taugen soll.

Bei Haas und Schöllhorn bleiben die Bearbeitungen im Bereich von Kunst, und zwar von Kunst Mittel- und Westeuropas. Anders bei Nikodijević. Er arbeitet in sein Orchesterstück absolutio neben Anleihen, die nach Stravinskij klingen, auch lokale Musik ein. Es gibt Anleihen an südserbische Volksmusik.

Wenn ein Komponist eine bestimmte Musik zitiert oder bearbeitet, dann zitiert er damit ein bestimmtes Verhältnis zur Zeit: die dieser Art von Musik innewohnende Gangart. Konkret: ob ich mich zu Fuß, zu Pferd, auf einem Esel, Kamel, in der Kutsche, mit einem Fahrrad, dem Auto, dem Zug oder mit der Magnetbahn oder dem Flugzeug fortbewege. Vielleicht hängt mit dieser Fortbewegungsart zusammen, in welcher Weise ich künftige Bewegungen antizipiere: als menschliche, als virtuelle oder als solche von Maschinen, die nur noch sehr indirekt als menschliche Organprojektion oder als menschengemacht oder von Menschen nachvollziehbar vorgestellt werden können. Eine progressive Harmonik hat vielleicht etwas zu tun mit der Vorstellung, dass man sich weit weg bewegt, nicht mehr zu Fuß, auf dem Pferd, Esel oder Kamel. Vielleicht mit dem Zug. Kann ich mir Wagners Musik zusammendenken mit der Tatsache, dass für Wagners Fortbewegung nicht mehr die Kutsche die passende Gangart abgibt, sondern die Dampflok?

Die Fortbewegungsart mit einem Zug (oder einer Achterbahn, die ja auch auf Gleisen fährt), passt genauer aber erst bei Haas. Anders als Nicolaus A. Huber hat er keine Berührungsängste mehr gegenüber Tonalität und dem Zeitempfinden, das Tonales mit sich bringt. Aber er lässt Tonalität auch wieder nicht einfach so in seine Stücke eindringen. Es gibt bei Haas dieses Faible für Dreiklänge, Dominantseptakkorde, Nonenakkorde. Die Verbindungen von Klängen sind trotzdem nicht auf übliche Weise tonal. Es gibt keine Kadenzmechanik mehr.

Wenn Haas aber – wie in anachronism – Flächen von B-, D- und Fis-Dur ausbreitet, sind das natürlich nicht zufällig Flächen, die man als zirkulär verstehen kann, da sie einem hexatonischen Zyklus angehören oder da sie – nach anderer Betrachtung – im Tonfeld „Kontrast“ vorkommen, jeweils in einer der vier möglichen Transpositionen. Daneben gibt es die Transposition einen Halbton aufwärts: Es- und H-Dur. Unklar, warum kein G-Dur auftaucht. Es gibt also B, H, C, D, Es und Fis. Ich kann keine durchgreifende Systematik erkennen. Bei tonaler Musik gibt es dieses sich-Herstellen der Tonika. Bei Haas taucht ein vergleichbarer Effekt auf, wenn nämlich B- D- und Fis-Dur erreicht werden. Das ist wie das Einrasten der Tonika. Oder auch: man kommt nach viel Gequietsche endlich aufs richtige Gleis. Haas hat mehrere Methoden, das Einrasten zuwege zu bringen: mal mit dem Umschlag von einem verschmutzten Partialton her (wie dort, wo es nach B geht), mal mit dem stufenweisen und ruckhaften Absacken (wie beim Erreichen von Fis). Schon von dem historischen Ort her sind bei Haas nicht etwa tonale Vorlagen privilegiert. Vielleicht zeigen die aufgeführten Beispiele von Schöllhorn, Nikodijević und Haas, dass europäische Musik eine Zeiterfahrung des Ortes einbegreift (womit ihre Musik zum Gegenstand von Ethnologie wird). Ein solcher Ansatz lässt den Unterschied zur Zeiterfahrung anderer musikalischer Ethnien gering erscheinen – eigentlich nur als einen graduellen Unterschied, einen der größeren oder kleineren Entfernung.

[1] „…wie die Zeit vergeht“, 1957/63, in: Karlheinz Stockhausen, Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik, Bd. 1: Aufsätze 1952-1962 zur Theorie des Komponierens, hrsg. von Dieter Schnebel und Christoph von Blumröder, Köln: DuMont Schauberg 1963,
[2] Vgl. Christian Utz, Artikel „Rhythmus/Metrum/Tempo“ in: Lexikon Neue Musik, hrsg. von Jörn Peter Hiekel und Christian Utz, Stuttgart: Metzler 2016, S. 531, rechte Spalte.
[3] Helmut Lachenmann, „Klangtypen der Neuen Musik“ (1966/1993), in: ders., Musik als existenzielle Erfahrung. Schriften 1966–1995, hrsg. von Josef Häusler, Frankfurt am Main: Breitkopf & Härtel, Insel-Verlag 1996, S. 1–19.
[4] Utz, 2016 (Neue Musik), S. 532, linke Spalte.
[5] In einer 1834 publizierten Schrift von François-Joseph Fétis wird derartiges entwickelt. Vgl. Mary Irene Arlin: „Metric mutation and modulation. The 19th century speculations of F.-J. Fétis“, in: Journal of Music Theory: a Yale School of Music Publication, 44:2000. 2, S. 261–322.
[6] Utz 2016 (Neue Musik), S. 532, linke Spalte.

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